Bericht über die Lesung von Inge Müller. Kreis-Anzeiger vom 02.07.2025
Das Mosaik eines sechsfach geflügelten Cherubs in der Kuppel der Hagia Sophia von Istanbul inspirierte Michael Schroeder zur Erzählung über einen nächtlichen Flug zwischen Zeiten und Rumen in den Armen eben dieses Engels.
»Lesen Sie bitte weiter«, forderte eine Zuhörerin den Autor am Ende seines Vortrags auf. So stark hatte Michael Schroeder sein Publikum im Keller des Kulturkreises Altes Rathaus Ortenberg (KARO) in den Bann seines literarischen Debüts mit dem Titel »Halbmondzeit« gezogen.
Begrüßt von Pfarrer Martin Schindel als Vorstandsmitglied des Kreises, hatte Schroeder zunächst einen Einführung in die Entstehungsgeschichte seines Werkes gegeben, die sich über 20 Jahre seines Lebens hin erstreckt. Entsprechend vielschichtig und facettenreich wie ein mehrfach und überaus fein geschliffener Diamant präsentiert sich der Band, dessen Einband das Mosaik-Porträt eines dunklen, im Original sechsfach geflügelten Cherubs aus der Kuppel der Hagia Sophia in Istanbul zeigt. Zu Füßen dieses Engels stehend, lässt sich der Protagonist und Er-Erzähler zunächst von den brennenden Augen, schließlich von Armen und Flügeln des Geistwesens anziehen, umfangen und auf eine magisch und mystisch getönte Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart, »ins Innere der Liebe« sowie zu den realen Grausamkeiten der modernen Welt, in die Wüste der Leidenschaften und die Höhen klassischer Lyrik und Musik entführen. Auf unvorstellbar komprimierten Raum durchmisst der Erzähler die eigene Kindheit in Trier und die Initiation in die eigene Männlichkeit beim Durchschwimmen eines Flusses nahe dem griechischen Olympia. Er begegnet dem unsagbaren Flüchtlingselend im Mittelmeer ebenso wie den Körpern der vom IS barbarisch hingerichteten 21 jungen koptischen Märtyrer von Sirte in Libyen, die »den Tod überwunden haben« und sich, wie ihm der Engel verkündet, in der direkten Anschauung Gottes befinden. Ein kurzes Gespräch mit Sappho im Kleid einer jungen, modernen Frau wechselt mit dem Anblick der Heiligen Drei Könige, die Trier im weiten Burnus durchschreiten, Begegnungen mit dem jungen, begehrenswerten Narziss in mannigfacher Gestalt wechseln mit Verlust und Verzicht, Lebenshunger und Lebensleid, sensibel und bildgewaltig nachgezeichnet.
Reise endet hoffnungsvoll
Die Reise endet hoffnungsvoll und offen dort, wo sie begann: in Istanbul, dem einstigen Konstantinopel, wie das römische Trier vormals Residenz Kaiser Konstantins, am Hafen, unter einem Himmel, an dem gerade die Sonne aufgeht. Der Erzähler »ergriff aus dem Gehege seines Herzens die Sehnsüchte und Träume, Hoffnungen und Wünsche seines Lebens, wie kleine Vögel, und warf sie dem Himmel entgegen«.
Der Titel »Halbmondzeit« stehe für ihn nicht in erster Linie für den Orient, erläuterte Michael Schroeder, der als klassischer Altertumswissenschaftler, Kunsthistoriker, Sprachkundiger, Forscher und Übersetzer viel Zeit in Süditalien, Griechenland und Syrien verbracht hat. »Der Halbmond kann sich zunehmend zum Vollmond runden oder abnehmend zum Neumond werden. Alles ist offen, vieles ist möglich, davon berichtet meine Erzählung - obwohl es mir so scheint, als ob sich viele Tore in der Welt gerade schlössen.«
Vergewisserung und Entlastung
Michael Schroeder, der sich in seiner vielseitigen Arbeit auch als Ortenbergs Stadtarchivar, als Heraldiker sowie als Übersetzer der Gedichte von Konstantinos Kavafis und der Sappho von Lesbos einen Namen gemacht hat, ergänzte seinen Vortrag durch traditionelle griechische Klänge sowie Lieder aus dem arabischen Raum. Schreiben sei für ihn Vergewisserung und Entlastung, das sorgsam gewogene und bearbeitete Wort könne Menschen benennen, ihnen ein Denkmal setzen und ihnen ihre Würde zurückgeben - wie im Fall der Märtyrer von Sirte oder der toten Flüchtlinge des Mittelmeers - es könne heilen und versöhnen, Wege aufzeigen und weite Reisen des Geistes und des Herzens ermöglichen. »Ich hatte nicht von Anfang an eine Veröffentlichung im Sinn«, so der Autor, der auch betonte, nicht »den Leser« oder eine bestimmte Zielgruppe im Blick gehabt zu haben. »Jeder redliche Autor muss zugeben, dass er zuerst einmal für sich selbst schreibt.«
In »Halbmondzeit« ist dies meisterhaft gelungen, sinnlich und zugleich vergeistigt, erdgebunden und visionär, politisch von tiefer Solidarität mit den Schwachen und Entrechteten durchzogen, weltoffen religiös und zugleich von mystischer Dichte. »Sie schreiben in einem geradezu magischen Duktus, wie die klassischen Dichter, die sie übersetzt haben«, stellte das Publikum abschließend fest.
Michael Schroeder: Halbmondzeit. Erzählung. Verlag Elfenbein, Berlin 2023, ISBN: 978-3-96160-089-2